Kapitel 1: Heuhaufen-Schatz und Stille-Post-Geschrei
Tukan war mal wieder einer der ersten, als er in der Schule ankam. Er war natürlich mit Affe, Nilpferd, Ozelot und Rostkatze zusammen zur Schule gekommen. Rostkatze gehörte jetzt auch schon richtig zu ihnen. Wenn sie mal wieder einen "Fall" haben würden, würde sie auch mitermitteln. Darauf hatte Ozelot bestanden. Die beiden passten übrigens wirklich gut zueinander. Sie verstanden sich auch super und manchmal wussten sie schon, was der andere sagen wollte, ohne dass sie für die Kommunikation Töne produzieren mussten. Das war sehr praktisch.
Die 5 Freunde (Tukan, Affe, Nilpferd, Ozelot und Rostkatze) ließen sich auf ihrem Lieblingsast nieder und warteten, bis alle da waren, damit der Unterricht beginnen konnte. Eigentlich hätten sie jetzt Überlebensunterricht mit Herr Kaiman gehabt, aber er konnte nicht kommen, weil er von einer großen Würgeschlange angegriffen wurde, und wurde von Frau Wasserschwein vertreten.
Jaguar war der Letzte. Als er (übrigens total verspätet) angekommen war, begrüßte Frau Wasserschwein die Tierkinder und stellte ihnen dann eine Frage. "Weiß jemand von euch, wie Menschen aussehen?", fragte sie. Die Mienen der Tierkinder verfinsterten sich sofort. Warum sprach Frau Wasserschwein dieses Thema an? Sie wusste doch, dass kein Tier gerne über die Menschen sprach! Sie waren sozusagen tabu! Die Menschen waren gefährlich und die Tiere wussten nichts über sie, weil sie nichts über sie wissen wollten!
Frau Wasserschwein wiederholte ihre Frage. Die Tierkinder schüttelten die Köpfe und man konnte ein allgemeines NEIN vernehmen. Nur Jaguar schwieg mit finsterer Miene. Leopard wies Frau Wasserschwein darauf hin, dass er seine Meinung nicht geäußert hatte. Frau Wasserschwein ließ ihren Blick auf Jaguar ruhen, bis er etwas sagte. Aber das brachte nichts, denn er schwieg immer noch wie ein Grab. Deshalb musste ihn Frau Wasserschwein fragen. "Was ist los, Jaguar? Du sagst gar nichts. Und du bist völlig verspätet gekommen."
Tukan, Affe, Nilpferd, Ozelot, Rostkatze, Nebelparder, Kasuar, Tapir und Leopard schauten Jaguar an. Schließlich sagte der: "Ich weiß, wie Menschen aussehen."
"Woher weißt du das denn?", platzte es aus Kasuar heraus.
"Ich hab heute Morgen mit meinem Vater ganz alte Papiere entdeckt, die zeigen, wie sie aussehen", gab Jaguar zu.
"Deshalb bist du also zu spät gekommen!", sagte Tukan.
Jaguar nickte. "Wenn ihr wollt, kann ich sie morgen in die Schule mitnehmen. Dann können wir sie uns alle ganz genau anschauen."
"Ich will aber nicht wissen, wie Menschen aussehen!", protestierte Nebelparder energisch.
"Ich auch nicht!", wimmerte die arme Zwergameisenbär ängstlich.
"Ach komm", sagte Hyazinthara. "Sie sind doch sicher ganz hübsch."
"Neeeein! Sie sind bestimmt hässlich und riesig! Und ganz, ganz gefährlich!", weinte Zwergameisenbär.
"Du musst die Papiere ja nicht anschauen", tröstete Frau Wasserschwein das kleine Tier. Damit war Zwergameisenbär einverstanden.
Am nächsten Tag brachte Jaguar die Papiere mit den Zeichnungen, die Menschen darstellten, tatsächlich in die Schule mit. Frau Wasserschwein, Frau Nasenbär, Frau Harpye, Herr Gürteltier, Frau Aguti und alle Tierkinder außer Zwergameisenbär beäugten sie mit neugierig-misstrauischen Blicken und kommentierten das Aussehen der Menschen. 5 Minuten zu spät kam auch noch Herr Kaiman dazu. Er hatte sich aus seiner lebensgefährichen Sitauation mit der Würgeschlange befreit, in dem er sie mit einem kräftigen Biss außer Gefecht gesetzt hatte. Er war übrigens noch ziemlich außer Atem, als er in der Schule ankam und sich zu den anderen gesellte, um die Papiere anzuschauen.
"Die Menschen tragen seltsamen Kopfschmuck und haben so etwas wie eine Mähne!", sagte Okapi.
Papagei kommentierte: "Sie haben kein Fell und sind mit komischen Sachen bedeckt!"
"Das nennt man Stoff", belehrte ihn Paradiesvogel.
"Echt?", fragte Krokodil. "Ich dachte, das heißt irgendwie so Tusch oder so ähnlich."
"Tuch", erklärte Chamäleon.
"Sehr schön! Und jetzt noch mal im Plural!", sagte Frau Harpye.
"Äh... Was ist das, Plural?", wollte Kasuar wissen.
Frau Nasenbär seufzte. "Haben Frau Harpye und ich euch doch schon tausendmal erklärt! Also echt, Kasuar! Plural ist die Mehrzahl!"
"Ja-ha, aber wir wissen ja nicht, was die Mehrzahl von Tuch ist!", regte sich Nebelparder auf.
"Ist doch klar: Tuchs!", sagte Herr Kaiman. "Die Mehrzahl funktioniert doch so, dass man einfach ein S an das Wort hängt!"
"Nicht immer", mischte sich Frau Aguti ein.
"Was ist denn dann die Mehrzahl von Tuch?", fragte Frau Wasserschwein.
"Tücher!", sagte Frau Harpye.
"Ach so! Klingt doch ganz gut. Tuch - Tücher", meinte Herr Gürteltier.
"Sie scheinen übrigens kleinere, gemalte Menschen anzubeten", fiel Okapi auf.
"Stimmt! Die kleineren sind übrigens manche auch Mischwesen, halb Mensch, halb Tier!" Herr Kaiman klapperte aufgeregt mit seinem großen Gebiss.
"Die heißen, glaube ich Götter", erklärte Frau Aguti.
"Sie beten nicht reale Wesen an? Wie dumm!", platzte es aus Rostkatze heraus.
Ozelot lachte. "Stimmt. Das macht keinen Sinn."
"Hat ja gar keinen Nutzen", sagte Tukan sachlich.
"Einer von diesen Göttern ist eine Schlange!", zischte Anakonda.
Paradiesvogel plusterte sich auf. "Das ist eine Schlange mit Federn!"
Hyazinthara kicherte: "Gefiederte Schlange!"
Jaguar nickte bedächtig. "Gefiederte Schlange... Gefiederte Schlange... Hört sich echt nach einem Gott an!"
"Ja, stimmt!", sagte Papagei.
Nilpferd gähnte. "Aha."
Affe wies auf einen großen gelben Haufen mit bunten Punkten, der neben den Menschen, die die Götter anbeteten, abgebildet war. "Das sieht merkwürdig aus! Was könnte das sein?"
Frau Nasenbär schnupperte das alte Papier mit ihrer großen Nase neugierig ab, als ob das helfen könnte. Sie schaute zu Frau Harpye. Die rätselte bereits und hatte den Kopf auf den Flügel gestützt. "Hmm... Ich wusste doch mal, wie sowas heißt..."
"Heuhaufen?", scherzte Leopard und erntete ein paar strenge Blicke.
Hyazinthara legte ihren Flügel vor den Schnabel und machte: "Sch!"
Frau Harpye sprang auf. "Genau, Sch! Das war es! Sch...atz! Schatz! Das ist ein Schatz!", rief sie mit ausgebreiteten Flügeln und schiefgelegtem Kopf.
Die anderen Lehrer applaudierten.
Die Tierkinder spielten das Stille-Post-Spiel. Jeder flüsterte seinem Nachbar das zu, was er gehört hatte. Okapi fing an. Sie gab los: "Ein Schatz!"
Nebelparder war der letzte. Er musste laut sagen, was er verstanden hatte. Er sagte: "Anakonda hat mich gekratzt!"
Anakonda fand das gar nicht lustig und knirschte mit ihren spitzen, nach hinten gebogenen Zähnen, von denen sie über 100 hatte und die ihr halfen, große Beutetiere festzuhalten und zu verschlingen.
Okapi, Papagei und Paradiesvogel brachen in Gelächter aus.
"Tapir hat mir das gesagt! Ich kann nichts dafür!", rief Nebelparder.
"Hä? Ich weiß es von Krokodil!", verteidigte sich Tapir.
"Ich bin doch nicht Schuld! Kasuar hat so leise genuschelt, ich konnte gar nichts verstehen! Es hat sich so angehört wie 'Anakonda hat mich gekratzt', deshalb hab ich einfach das gesagt!", regte sich Krokodil auf.
Kasuar flatterte mit seinen kleinen Flügeln, die ihm nichts nützten, weil er ein flugunfähiger Laufvogel war. "Was schiebt ihr mir alle die Schuld in die Schuhe?! Man muss halt flüstern, sonst hört's ja jeder! Und Chamäleon hat voll komische Sachen gesagt!", ärgerte er sich.
"Ist doch auch egal, wer jetzt was gesagt hat", sagte Tukan.
"Was hat Okapi denn gesagt?", fragte Rostkatze.
Ozelot nickte. "Würde ich auch gerne mal wissen!"
"Ich habe gesagt: Ein Schatz!", erklärte Okapi unter dem lauten Lachen von Papagei und Paradiesvogel.
Jaguar, Kasuar, Leopard, Chamäleon, Krokodil, Tapir und Nebelparder murrten.
"Voll langweilig!", schnaubte Tapir.
"Überhaupt nicht krass", grummelte Krokodil.
"So fantasielos, ey!", knurrte Nebelparder.
"Typisch Mädchen", schnatterte Kasuar.
"Die Waldgiraffe kann sich gar nichts selber ausdenken, die sagt einfach das nach, was Frau Harpye sagt!", kritisierte Chamäleon Okapi. Die reckte verärgert den Hals. Ihre beiden Freunde Papagei und Paradiesvogel gurrten unzufrieden.
Frau Harpye warf den 6 Jungs strenge und vorwurfsvolle Blicke zu.
"Okapis Wort war doch schon richtig gut", sagte Frau Nasenbär.
Herr Gürteltier schaute zu Frau Wasserschwein. Die seufzte.
Herr Kaiman räusperte sich.
Frau Aguti behielt Jaguar, Kasuar, Leopard, Chamäleon, Krokodil, Tapir und Nebelparder wachsam im Auge. Doch die 6 begehrten noch lauter auf und ließen sich nicht unterdrücken.
"Ihr wollt die Mädchen doch bloß bevorzugen, weil sie immer brav sind!", verteidigte Tapir sich und seine Freunde. Er trampelte laut mit seinen Füßen. Dadurch wurden viele auf seine sehr interessanten Füße aufmerksam. An den Vorderfüßen hatte er 4 mit Hufen verkleidete Zehen, an den Hinterfüßen nur 3.
Chamäleon kreischte: "Dabei ist das Bravsein doch gar nicht wichtig für das Überleben! Um überleben zu wollen, muss man stark und mutig sein, und vor allem nicht zurückhaltend! Wenn man zum Beispiel sein Revier verteidigen muss, sind diese Fähigkeiten viel nützlicher! Oder wenn man von einem viel größeren Tier angegriffen wird!" Er musste so eine extreme Lautstärke anwenden, um mit seinem dünnen Stimmchen überhaupt Gehör bei den anderen zu finden. Er verwandelte sich vor den Augen aller Tierkinder und Lehrer in den Ast, auf dem er saß, in dem er einen bräunlichen Ton annahm, und ließ seine lange Zunge aus seinem kleinen Maul herausschießen.
In dem lärmenden Tumult, der entstanden war, war es ziemlich schwer für Herrn Gürteltier, sich durch die wimmelnden, schreienden Tierkinder-Massen zu drängeln und einen für alle sichtbaren Platz einzunehmen. Als er meinte, dass alle langsam leiser wurden und zu ihm schauten, donnerte er: "Ruhe! Jetzt alle in die Pause! Hopp! Los!"
Während die Kinder in die Pause stürmten und erneut anfingen, Lärm zu verursachen, kugelte er sich zu einer harten Panzerkugel und versuchte so, sich vor dem Geschrei, Gejohle und sonstigen lauten Radau zu verstecken. Die übrigen Lehrer wünschten sich wahrscheinlich ebenfalls so eine Funktion zu haben. In der unberührten Natur kam es schließlich nicht häufig vor, dass lauter Krach produziert wurde, denn das war ja auffällig und würde Fressfeinde anlocken.
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